Architektur im KI-Zeitalter
Gastbeitrag von Guiscardo Pin, Vorstand Reply Deutschland SE
Generative KI eröffnet neue Dimensionen in Design und Architektur: von der kreativen Ideenfindung über Materialinnovationen bis hin zur konkreten Umsetzung im Raum. Ein Projekt von Reply, Marazzi und ACPV ARCHITECTS zeigt, wie KI-gestütztes Design den Sprung vom Konzept zur gebauten Realität schafft.
Gestaltung neu denken - mit Künstlicher Intelligenz
Architektur ist mehr als reine Funktion: Sie ist Ausdruck, Haltung, Atmosphäre. In der Entwurfsphase spielen kreative Impulse eine zentrale Rolle: Formen, Texturen, Lichtstimmungen und Materialien bestimmen, wie wir Räume erleben. Hier beginnt die Relevanz von generativer KI.
Modelle wie DALL-E, Midjourney oder Stable Diffusion erlauben es heute, innerhalb von Sekunden Varianten zu generieren, visuelle Ideen zu testen und gestalterische Konventionen zu hinterfragen. Dabei entstehen nicht nur neue Formen, sondern auch neue Denkweisen in Bezug auf Form und Materialität.
Vor allem in frühen Projektphasen wird die KI zum kreativen Co-Piloten. Sie liefert Inspiration und ermöglicht explorative Prozesse jenseits klassischer Referenzsysteme: Natürliche Formen können mit digitalen Strukturen kombiniert, historische Elemente neu interpretiert, Texturen auf bisher undenkbare Weise gedacht werden.
Vom Algorithmus zur Oberfläche: Das Projekt "AI Generation Marble"
Ein wegweisendes Beispiel für den produktiven Einsatz generativer KI ist die Zusammenarbeit zwischen Reply, der Marazzi Group - einem der führenden Hersteller von keramischen Oberflächen - und dem Architekturbüro ACPV ARCHITECTS Antonio Citterio Patricia Viel. Ziel war es, durch KI-gestützte visuelle Exploration neue Marmordesigns zu schaffen, die sich an natürlichen Vorbildern orientieren, diese aber durch algorithmische Weiterentwicklung in Form, Farbe und Detailreichtum übertreffen.
Mit Hilfe von generativer Bild-KI entstanden in kurzer Zeit hunderte hochauflösende Entwürfe - inspiriert von Gesteinsformationen, geologischen Strukturen, Lichtverläufen und Texturmustern. Diese Entwürfe wurden anschließend in einem kuratierten Auswahlprozess weiterentwickelt, angepasst und für die industrielle Umsetzung vorbereitet.
Dank des technischen Know-hows von Marazzi wurden die digitalen Entwürfe mittels hochpräzisem Digitaldruck, der auch feine Farbverläufe und Tiefeneffekte realistisch wiedergibt, in keramische Oberflächen umgesetzt. Das Ergebnis: künstlich erzeugte Marmorsorten, die es in Optik und Haptik mit echtem Naturstein aufnehmen können, dabei aber leichter, langlebiger und industriell reproduzierbar sind.
Kollaboration als Innovationstreiber
Das Projekt ist auch ein Beispiel für gelungene interdisziplinäre Zusammenarbeit: Reply brachte seine Expertise im Bereich generative KI und Prompt Engineering ein. Marazzi war für die Materialentwicklung und die Umsetzung in keramische Produkte verantwortlich. ACPV ARCHITECTS wiederum nutzte das Potenzial der neuen Marmorsorten, um sie in architektonische Konzepte zu integrieren.
Entscheidend war dabei der iterative Prozess: Die Ergebnisse der generativen Modelle wurden kritisch geprüft, von menschlichen Designern kuratiert und gemeinsam weiterentwickelt. So entstand ein hybrider Kreativprozess, in dem maschinelle Intelligenz und menschliches Design gleichberechtigt agierten.
Vom Konzept zur gebauten Realität
Im Oktober 2025 erreicht das Projekt seinen architektonischen Höhepunkt: In Turin eröffnet das neue Reply Office als Innovationscampus und architektonisches Statement. Erstmals werden hier KI-generierte Marmordesigns in einem großen Architekturprojekt eingesetzt. Während die neuen Oberflächen bereits in kleineren Showrooms oder Testbereichen eingesetzt wurden, ist das Reply Office ein Projekt, das diese neu entwickelten Materialien als zentrales Element eines architektonischen Gesamtkonzepts verwendet.
Damit wird die ehemalige Kaserne zur Technologieplattform und gleichzeitig zum Manifest einer neuen, von KI inspirierten Designkultur. Die Integration der generierten Marmortypen verleiht der Architektur eine künstliche und zugleich natürliche Ästhetik: Ein Spiel mit Erwartung und Wahrnehmung, das zeigt, wie digital gestaltete Oberflächen den Charakter realer Räume prägen können.
Ausblick: KI als permanenter Entwurfsimpuls
Der Einsatz von generativer KI in Architektur und Design steht erst am Anfang. Während aktuelle Anwendungen vor allem visuelle Konzepte oder Materialstudien betreffen, wächst das Potenzial für eine tiefere Integration - etwa im parametrischen Entwurf, in der Simulation von Lichtverhältnissen oder in der datenbasierten Raumoptimierung.
Projekte wie das von Reply, Marazzi und ACPV ARCHITECTS zeigen dies: Wenn Technologie, Materialexpertise und Design zusammen gedacht werden, entsteht mehr als die Summe ihrer Teile. Generative KI ersetzt kreative Prozesse nicht, sie erweitert sie. Und sie wird die Gestaltung von Räumen in den kommenden Jahren nachhaltig prägen.
Zum Video mit Beispielen für KI-generierten Marmor