Frühbucher-Rabatt sichern
Warum die Internetindustrie die frauenfeindlichste Branche Deutschlands ist
09.04.2013 In den Vorständen deutscher Aktiengesellschaften sitzen doppelt so viele Frauen wie in der Geschäftsleitung der Top-50-Interaktivagenturen - ein Armutszeugnis für eine Branche, die sich selbst als besonders fortschrittlich, hypermodern und genderfreundlich bezeichnet.
So sitzen in der Geschäftsführung der Top-20-SEOs nur halb so viele Frauen wie in den Aufsichtsräten deutscher Aktiengesellschaften. Ähnlich dominant sind die Männer bei Start-up-Unternehmen; hier ist der Gründerinnenanteil nur gut halb so groß wie der von weiblichen Führungskräften in Deutschland insgesamt.
Und sogar den kümmerlichen Wert von 6 Prozent Frauen in den Vorständen von deutschen börsennotierten Unternehmen kann die ach so fortschrittliche und liberale Interaktivbranche um die Hälfte unterbieten: Unter den Geschäftsführern der Top 50 des iBusiness-Internetagenturen-Rankings 2012 sind nur 2,8 Prozent Frauen.
Bei den Vergleichen zeigt sich: Zum einen gilt, je größer das Unternehmen, desto weniger weibliche Führungskräfte gibt es. Zum anderen hängt die Anzahl der Frauen in Führungspositionen von der technischen Ausrichtung ab: Je stärker ein Unternehmen technisch orientiert ist, desto weniger Frauen arbeiten dort und desto weniger schaffen es bis an die Spitze. iBusiness hat verschiedene Frauenquoten aus der Interaktivbranche ermittelt und sie mit Studien aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft verglichen:
Das Marktzahlen-Archiv ist ein Premium-Service von iBusiness. Werden Sie Premium-Mitglied, um dieses Chart und viele tausend weitere abzurufen.
Jetzt Mitglied werdenDer Frauenanteil liegt zwischen einem Fünftel und fast nichts
- Führungspositionen in Deutschland: Während Frauen gut die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen und 44 Prozent der deutschen Berufstätigen weiblich sind, werden nur 21,3 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt. Das besagt eine Auswertung der Wirtschaftsauskunftei Bürgel
. Im Vergleich zum Vorjahr ist dieser Wert minimal um 1,3 Prozent gestiegen. Sollte der Frauenanteil in diesem Tempo weiterwachsen, würde es bis 2078 dauern, bis das Verhältnis ausgeglichen ist.
- Mitarbeiter/Geschäftsführer in Interaktivunternehmen: Um das Frauen-Männer-Verhältnis in der Internetbranche abschätzen zu können, haben wir zwei iBusiness-Datenbanken ausgewertet. Zum einen die iBusiness-Mitglieder: Sie sind zu 19,5 Prozent weiblich, woraus wir auf die ungefähre Verteilung der Geschlechter in der Interaktivbranche insgesamt schließen. Für den Anteil an Frauen in der Geschäftsführung der gesamten Branche haben wir die im iBusiness-Jahrbuch registrierten Unternehmen ausgewertet. Laut diesen Zahlen sind 16,7 Prozent der Geschäftsführenden in Interaktivunternehmen weiblich.
- Spitzengremien deutscher Aktiengesellschaften: Anfang April dieses Jahres hat die Managerinnen-Initiative Frauen in die Aufsichtsräte
(Fidar) den Frauenanteil in Aufsichtsräten und Vorständen von 160 im DAX, MDAX, SDAX und TecDAX notierten Unternehmen untersucht. Demnach liegt der Anteil der Frauen bei 11,1 Prozent. Dies entspricht einem Zuwachs von 4,6 Prozentpunkten innerhalb der vergangenen zwei Jahre, als die letzte Untersuchung stattfand. Dabei sieht es in den Aufsichtsräten noch besser aus als bei den Vorständen. Die Aufsichtsräte können immerhin einen Frauenanteil von 16,2 Prozent aufweisen, während in den Vorstandsetagen nur 5,9 Prozent Frauen sitzen - jedoch immer noch mehr als in den Top-Interaktivagenturen.
- Redner auf Interaktivkonferenzen: Unsere Untersuchungen zeigen: Es ist nicht nur ein subjektiver Eindruck, dass man auf Konferenzen kaum Frauen auf dem Podium sieht. Tatsächlich hat die Auswertung von knapp 500 Vorträgen auf Konferenzen der Interaktivbranche ergeben, dass 14,9 Prozent der Speaker weiblich sind. Die Zahlen der einzelnen Konferenzen schwanken stark: Zum Beispiel sprachen im Messeprogramm Infoarena der Internet World
2013 nur 2,7 Prozent Frauen, während auf der Re-Publica
in Berlin mehr als ein Drittel der Vortragenden weiblich sein sollen.
- Start-up-Geschäftsführer/-Gründer: Gerade bei Start-up-Unternehmen erwartet man eine ausgeglichenere Geschlechterverteilung. Schließlich geht es hier um eine besonders junge Branche ohne festgefahrene Strukturen, wie sie in gewachsenen Unternehmen oft vorherrschen. Doch laut unseren Analysen der Geschäftsführer und Gründer von 60 zufällig ausgewählten Start-ups fällt auch hier die Verteilung zugunsten der Männer aus: 13,2 Prozent Frauen zu 86,8 Prozent Männer.
- Spieleentwickler: Frauen machen nur 12 Prozent aller Entwickler im Gaming-Sektor aus, sagt der britische Verband der Spielebranche Tiga
. Kein Wunder, dass von vielen Seiten - auch von männlichen - immer wieder beklagt wird, Videospiele seien sexistisch
und vornehmlich mit Männern in der Hauptrolle besetzt
. Demgegenüber steht laut Bitkom
ein weiblicher Anteil der deutschen Gamer von rund 40 Prozent.
- Geschäftsführer der Top-20-SEOs: Wie die Spieleentwickler stammen auch die SEOs aus der IT-Entwickler-Ecke. Kein Wunder also, dass hier der Frauenanteil besonders niedrig ist: Bei den Top-20-SEOs des iBusiness-Rankings
Q4/2012 sind acht Prozent der Geschäftsführer weiblich.
- Mitglieder im Top-Management ITK-Unternehmen: Beim Top-Management in ITK-Unternehmen kommt alles zusammen: die technische Orientierung der Unternehmen und die hohe Position. Deshalb ist bei ihnen, wie erwartet, der Frauenanteil einer der niedrigsten. Er kommt laut Bitkom
gerade mal auf drei Prozent. Im mittleren Management liegt er bei 4,4 Prozent. Dabei ist der Anteil der Frauen insgesamt in der ITK-Branche mit 15 Prozent ebenfalls gering. Und die Zukunftsaussichten sind kaum besser: Denn unter den Informatikstudenten sind nur knapp 20 Prozent Frauen und bei den IT-Azubis sind es nicht einmal 10 Prozent.
- Geschäftsführer der Top-50-Interaktivagenturen: Das Top-Management in der ITK-Branche ist noch zu toppen, und zwar von den Geschäftsführern der größten Interaktivagenturen. Sie stehen mit 2,8 Prozent Frauenanteil an der Spitze unseres Vergleichs.
Eigentlich ist die Internetbranche prädestiniert für Frauen - eigentlich
Gerade in der Internetbranche könnte man aufgrund der Strukturen und Aufgabenfelder einen hohen Frauenanteil im Management vermuten. Zum einen gibt es dort viele kreative Aufgaben; zum anderen stehen auf der Nutzerseite des Internets mindestens zur Hälfte Frauen, deren Wünsche weibliche Mitarbeiter besser kennen; und drittens: "In welcher Branche kann man leichter am Ball bleiben und auch von zuhause noch aktiv mitwirken, weil man zum Arbeiten lediglich einen PC und Internet braucht?", gibt auch Inga Dieckmann , Shopmanagerin bei Otto , zu bedenken.Doch die Negativgründe scheinen noch zu überwiegen. Der Respekt gegenüber der vermeintlich IT-lastigen Arbeit scheint viele Frauen davon abzuhalten, überhaupt in die Branche einzusteigen. Inga Dieckmann, die in ihrem BWL-Studium ebenso Wirtschaftsinformatik-Vorlesungen belegt hat, erzählt von ihrer anfänglichen Unsicherheit: "Wenn ich von mir ausgehe, besteht bei vielen Frauen die Angst, dass man gerade im E-Commerce programmieren können muss." Claudia Helming , Gründerin und Geschäftsführerin vom Start-up Dawanda , hat Ähnliches beobachtet: "Leider ist das alte Denkmuster, dass Frauen nicht technikaffin und chancenlos in männlich dominierten Umfeldern seien, noch immer in vielen Köpfen verankert und wirkt sich unterbewusst oft negativ auf das Selbstbewusstsein eigentlich hoch qualifizierter Frauen aus."
Sie spricht einen weiteren möglichen Grund für die dünne weibliche Besetzung von Chefetagen in der Branche an: Frauen zweifelten eher an sich und zeigten weniger Selbstvertrauen als männliche Kollegen. Aber auf dem Weg zur Führungsposition geht es vor allem um Selbstbewusstsein und Offenheit. "Meine Beobachtung ist, dass Frauen sich tendenziell eher unterschätzen, während Männer besser gelernt haben, die eigenen Stärken und Erfolge zu betonen", berichtet die Dawanda-Chefin.
Oft ist es auch immer noch das Verständnis des Arbeitgebers, das fehlt, wenn Frauen Kinder und Karriere unter einen Hut bekommen wollen. Zum Beispiel Mandy Stahn
, Senior Controller beim Payment-Start-up Ratepay
, berichtet von ihrer früheren Stelle in einer Berliner PR- und Werbeagentur. Dort hatte sie nach der Elternzeit einen Teilzeitvertrag. "Überstunden wurden dennoch vorausgesetzt, wobei Homeoffice nicht gern gesehen war." Dass sie eine kleine Tochter hatte, darauf sei in der Führungsebene keine Rücksicht genommen worden.
Ihre Chefin Miriam Wohlfarth
, Gründerin und Geschäftsführerin von Ratepay, sieht in dieser Unflexibilität den Grund für viele ausgebremste Frauenkarrieren. "Zwischen dreißig und vierzig legt man seinen Grundstein für die Karriere. Und in dieser Zeit bekommt man auch die Kinder", gibt sie zu bedenken. In diesem Alter sei es zudem schwierig, an die richtigen, weichenstellenden Jobs heranzukommen, weil viele Vorgesetzte bereits das Kind-oder Karriere-Dilemma befürchten. Auch für Gründerinnen sei das Timing schwierig: Die meisten Start-up-Unternehmen würden mit Ende zwanzig bis Anfang dreißig gegründet. "Da haben viele Frauen schon die Familiengründung im Kopf und wollen deshalb kein solches Risiko mehr eingehen."
Das Blatt wendet sich nicht von selbst
Es scheint einige Hoffnungsschimmer für eine ausgeglichenere Machtverteilung in der Branche zu geben. Während bisher weibliche Vorbilder rar waren, mehren sich inzwischen die Berichte über erfolgreiche Frauen: Paradebeispiele sind Sheryl Sandberg , die rechte Hand von Facebook-Chef Mark Zuckerberg , Yahoo-Chefin Marissa Mayer und die Präsidentin von Hewlett-Packard, Meg Whitman .Frauen, die es bereits in die Chefetage geschafft haben, sind optimistisch, dass sie eine schleichende Bewegung in Gang setzen könnten: "Je mehr Frauen in den Gremien sitzen, desto stärker werden dort weibliche Positionen vertreten", ist sich Christina Heres
, Geschäftsführerin der Agentur Cosmoblonde
sicher. "Dadurch werden mehr Frauen für die Führungsebene angelockt und sie haben bessere Chancen darauf." Auch Claudia Helming sieht bereits eine Veränderung: Während Frauen in Führungspositionen noch vor einiger Zeit eher Einzelgängerinnen gewesen seien, "begegnen mir heute immer mehr Frauen mit natürlichem Selbstbewusstsein und tollen Ideen, die bereit sind, die Branche aufzumischen", berichtet sie. In der Start-up-Szene hätten sich mittlerweile ebenfalls einige weibliche Akteure unter die Gründer gemischt.
Die nachfolgende Generation schürt ebenfalls Hoffnung "Die junge Generation wächst bereits wie selbstverständlich mit Internet und Computern auf", erläutert Christina Heres. Zudem scheine es bei den Kindern heute weniger Geschlechterunterschiede bei der Bildung und Sozialisierung zu geben als früher. "Deshalb werden zukünftige Frauen vermehrt in technologiegetriebene Männerdomänen einsteigen."
Wie Frauen in Interaktiv-Unternehmen Karriere machen |
---|
Vier Tipps von Claudia Schmidt
, Geschäftsführerin der Mutaree GmbH
und Expertin für Veränderungsmanagement: Frauen müssen beweglich sein, um Karrierechancen zu erkennen und zu nutzen. Dazu ist es wichtig, aktiv zu sein, Netzwerke zu knüpfen und auszubauen, in Entscheiderkreisen präsent zu sein, die Unterstützung von Mentoren zu nutzen und durch Erfolgsmodelle zu lernen. Falsche Bescheidenheit oder Prinzipientreue sind dagegen keine Karrierekatalysatoren. Zweitens brauchen Frauen Kraft und ein dickes Fell, um sich in unternehmensinternen Machtkämpfen durchzusetzen. Es reicht nicht, Wissen anzusammeln. Sondern Kenntnisse müssen in der Praxis angewandt werden, um dadurch Kompetenzen und Einflussbereich kontinuierlich auszubauen. Zurückhaltung ist fehl am Platz. Stattdessen müssen karriereorientierte Frauen Machtkämpfe nicht nur aushalten, sondern auch gewinnen. Frauen benötigen ein hohes Maß an mentaler Ausdauer, wenn sie es in die Führungsspitze eines Unternehmens schaffen wollen. Ausdauernde Motivation erreicht man aber nur, wenn man sich realistische Ziele setzt und diese Schritt für Schritt verfolgt. Die richtige innere Einstellung beeinflusst den Karriereerfolg: Haltung, Selbstvertrauen und ein starker Wille sind die Basis für eine erfolgreiche Karriere im Management. Frauen müssen gewinnen wollen und an den Sieg glauben, um beruflich voranzukommen. Der Wettkampf ist hart und am Ende gewinnen die, die ihre Kompetenzen am besten einbringen können. |
Die weibliche Verstärkung der Chefetagen ist nicht nur für die Frauen selbst erstrebenswert. Auch Unternehmen profitieren von Chefinnen, da sind sich Branchenkenner einig:
- Claudia Helming: "Frauen haben oftmals mehr Einfühlungsvermögen in Sachen weiblichem Kaufverhalten als Männer."
- Miriam Wohlfarth: "Frauen sind im Vertrieb oft besser, weil sie etwas zurückhaltender sind und ein besseres Gespür haben."
- Jacques-Antoine Granjon , Gründer und CEO von Vente-privee.com : "Ich denke, dass Frauen besondere Fähigkeiten bei der Organisation von Projekten und dem Management von Teams haben und diese mit ihrer Empathie immer neu motivieren."
- Christina Heres: "Um sich in den von Männern dominierten Führungsebenen zu behaupten, braucht man typisch weibliche wie männliche Charakterzüge; sowohl diplomatisches Geschick als auch Durchsetzungsvermögen."
Diese Vorteile der Frauen klingen wahnsinnig toll und die Indizien für die Emanzipierung der Branche äußerst vielversprechend. Zumindest theoretisch. Denn wenn man einen Blick in die aktuellere Geschichte der Branche wirft, schwindet die Zuversicht. Bereits 1997 prangerte iBusiness an , dass Multimedia-Unternehmen nur zu sieben Prozent von Frauen geführt wurden. 2006 schrieb die Redaktion , dass "Frauen in den Chefetagen der Online-Dienstleister kaum vertreten" seien. Und erst vor knapp zwei Jahren gab iBusiness zu bedenken , dass Frauen mit Kindern vor allem in der Interaktivbranche einen "Karriereknick in Kauf nehmen" müssen.
Von selbst wird sich also wahrscheinlich wie immer nichts ändern, das haben die vergangenen zwanzig Jahre gezeigt. Wirklich ändern können das Machtungleichgewicht nur die Frauen, die ihr Glück selbst in die Hand nehmen. Die, die mit allen Mitteln für ihren Führungsposten kämpfen, die den Chef mit einem Tritt - zur Not auch mit High Heels - aus dem Chefsessel befördern, und die, die mit ihrem letzten Cent und gegen alle Zweifel doch ihr Start-up gründen. Koste es, was es wolle.